2003 kam Dr. André Juschten als Mannschaftsarzt zur Sportgemeinschaft, erlebte den Zweitligaaufstieg 2004 hautnah und war im Anschluss bis ins Jahr 2024 als Arzt in der Nachwuchs Akademie tätig. Nun geht Juschten in den wohlverdienten Ruhestand. Die vernünftige, wohlgesonnene Stimme der verletzten Jungs war stets an der Gesundheit der heranwachsenden Profis orientiert und wird sowohl fachlich als auch menschlich große Spuren hinterlassen. Vor seiner Verabschiedung auf dem Rasen beim Heimspiel gegen den SC Verl im Rudolf-Harbig-Stadion sprach der Mediziner im Interview mit dem Dynamo-KREISEL.
Herr Juschten, haben Sie Ihr Blut nach 21 Jahren bei der Sportgemeinschaft eigentlich schonmal auf die schwarz-gelbe DNA untersucht?
„Das wäre vielleicht mal ganz hilfreich. (lacht.) Aber das Dynamo-Gen verlässt einen nie. Bei mir wurde es in der Kindheit durch den Vater impliziert und verfolgt mich bis heute im Alter von 64 Jahren. Das gehört zu meinem Leben.“
Wie kam es denn 2003 überhaupt zur Zusammenarbeit mit Dynamo?
„Damals war mein Studienfreund und Arbeitskollege Herr Dr. Hegner Mannschaftsarzt in der Profiabteilung der SGD. Er fragte mich, ob ich ihn unterstützen könne. Da habe ich sofort zugesagt. Anschließend kam Reinhard Häfner, zu diesem Zeitpunkt verantwortlich für den Nachwuchs, auf mich zu, ob ich mir denn vorstellen könne, die Nachwuchsabteilung ärztlich zu betreuen. Auch dort habe ich zugesagt. So bin ich bis heute der Mannschaftsarzt im schwarz-gelben Nachwuchs und war von 2003 bis 2012 außerdem stellvertretender Mannschaftsarzt der Profis.“
Sie kamen damals zu einem Verein, der pleite war. Haben ihre Angehörigen da nicht die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen?
„Nein, überhaupt nicht. Es war mir immer eine Herzensangelegenheit und ich habe es auch fast über den gesamten Zeitraum ehrenamtlich gemacht. Die Auswärtsspiele bin ich größtenteils unentgeltlich mit dem eigenen Auto gefahren. Mir ging es immer um den Verein und nie um irgendwelche Entschädigungen. Es war mir sogar eine große Ehre, für Dynamo tätig zu sein. Als Kind stand ich mit der Fahne im Block. Als Erwachsener durfte ich dann die Spieler der Traditionsmannschaft in meiner Praxis betreuen, denen ich als kleiner Junge zugejubelt habe. Wenn mir das jemand in den 1970er Jahren gesagt hätte, ich hätte es nie zu glauben gewagt. Reflektiere ich die letzten reichlich 20 Jahre, war es eine tolle Zeit, in der ich viel dazugelernt habe.“
Erinnern Sie sich dabei denn noch an den schönsten Dynamo-Moment?
„Definitiv der Aufstieg 2004. Erst das legendäre Spiel gegen VfR Neumünster vor 38.000 Zuschauern, die Woche drauf dann in Krefeld, wo von 11.000 Zuschauern 10.000 aus Dresden waren. Das waren die schönsten Momente meiner Zeit bei Dynamo.“
Wie haben Sie die Unterschiede hinsichtlich der Betreuung bei den Profis und der Betreuung beim Nachwuchs erlebt?
„Wenn ich an die ersten Jahre zurückdenke, hatten wir in beiden Bereichen ganz bescheidene Mittel. In der Profimannschaft gab es damals einen Masseur, nicht einmal einen Physiotherapeuten! In der Nachwuchsabteilung gab es eigentlich gar keine medizinische Betreuung. Die wenigen Kapazitäten, die es gab, waren ja nicht einmal ausreichend für die Profimannschaft. Ich habe dann damals mit meinen Kollegen ein Netzwerk aufgebaut. Wir hatten eine sehr gute Kooperation mit dem damaligen Chefarzt des Klinikums Friedrichstadt oder auch mit der radiologischen Praxis in Mickten, die uns bei Bedarf immer MRT-Termine freigeräumt hat. Ohne dieses von Sponsoren getragene Netzwerk, wäre eine vernünftige medizinische Betreuung gar nicht möglich gewesen. Letztendlich haben wir uns dann selbst vervollständigt. Ich habe mit Dr. Falko Moritz einen Knie- und Schulterspezialisten dazugeholt. Die Physiotherapie wurde ausgebaut. So haben wir jetzt in der Nachwuchs Akademie bessere therapeutische Voraussetzungen als damals bei den Profis.“
Als Arzt muss man heranwachsenden Fußballern auch hin und wieder harte Diagnosen aussprechen. Wie sind Sie damit umgegangen?
„Bei harten Diagnosen für Nachwuchsspieler habe ich immer zuerst das Gespräch mit den Eltern gesucht. Als Mannschaftsärzte haben wir eine gewisse Sorgfaltspflicht. Es ging mir primär nie darum, einen Spieler für die nächste Begegnung fit zu machen, sondern die Gesundheit des Menschen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, hatte stets Vorrang. Im Nachwuchsbereich geht es immer darum, ein Kind gesund zu machen, wenn es daneben für den Fußball reicht, ist es perfekt. Denn es gibt für jeden Fußballer ein Leben nach der aktiven Karriere, das man bei guter Gesundheit bestreiten möchte, auch wenn ich dabei manchmal mit den jeweiligen Cheftrainern aneinandergeraten bin.“
Gab es den Moment, wo Sie einem jungen Mann sagen mussten: ‚Bis hierhin und nicht weiter. Das wars mit dem Fußballspielen.‘?
„Wir Ärzte sind nur Ratgeber und haben nicht das Recht, jemandem das Fußballspielen von heute auf morgen zu verbieten. Es gibt oftmals angeborene Krankheiten, die mehrjährigen Leistungssport nicht zulassen. Das weiß ein Spieler natürlich zu Beginn seiner Laufbahn nicht. Wenn man zu einer solchen Diagnose kommt, muss man einem Spieler sagen, dass professioneller Leistungssport aus medizinischer Sicht unverantwortlich wäre. Solche Diagnosen treffen wir leider regelmäßig. Manchmal werden auch zufällig bei internistischen Untersuchungen angeborene Herzfehler entdeckt. Dann muss man die entsprechenden Konsequenzen fällen und vom Hochleistungssport dringend abraten.“
Was ist denn die gängigste Diagnose eines Mannschaftsarztes im Fußball?
„Die häufigsten Verletzungen sind Verstauchungen der Knie- und Sprunggelenke sowie Muskelfaser- und Muskelbündelrisse.“
Können Sie sich noch an Spieler erinnern, die Sie zusammengeflickt haben, welche danach auf dem Rasen im großen Stadion aufgelaufen sind?
„Auch wenn er nicht den ganz großen Sprung geschafft hat, denke ich da an Paul-Max Walther. Er hat im Sachsenpokalfinale 2008/09 für Dynamos zweite Mannschaft gegen den VFC Plauen das entscheidende Tor im Leipziger Zentralstadion erzielt. Walther war damals Topscorer in der U23 und der kam vor dem Finale arg angeschlagen zu uns. Gemeinsam mit dem Physioteam haben wir ihn fit bekommen und als er das entscheidende Tor schoss, rannte er beim Torjubel direkt auf mich zu. Das war ein sehr bewegender Moment.
Und dann war da noch Justin Eilers vor dem DFB-Pokalspiel gegen Schalke. Einen Tag zuvor hatte er sich beim Ausräumen des Geschirrspülers einen Hexenschuss zugezogen. Da rief mich Ralf Minge völlig fertig an: ‚Eile kann sich nicht mehr bewegen, das Stadion ist ausverkauft, Schalke steht auf der Matte. Kannst du irgendwas machen?‘ Meine Frau als Physiotherapeutin, Osteopathin und Chefin der Reha Nord hat sich dann zwei Tage lang mit Eile beschäftigt, sodass er spielen konnte. Als er dann den entscheidenden Treffer erzielte und beim Torjubel den Hexenschuss andeutete, war das wie eine kleine Hommage an die Arbeit meiner Frau.“
Rein medizinisch gesprochen: Was hat sich im Fußball in den letzten 20 Jahren verändert?
„Der Fußball ist schneller geworden. Dadurch sind die Ansprüche an eine gute Muskulatur sowie eine große Bandstabilität größer geworden. Heute sind auch die Gelenke schnelleren Richtungswechseln ausgesetzt. Früher wurde zu wenig für die Prävention getan. Diese Notwendigkeit zur Vorbeugung von Verletzungen ist heute Gang und gäbe. Dank der Berufsgenossenschaft wurden in den letzten Jahren zum Beispiel Module entwickelt, um die Bandstabilität und die Muskelqualität zu verbessern. Diese wurden dann auch bei Dynamo in der medizinischen Abteilung eingesetzt. Da hat Ralf Minge als damaliger Sportgeschäftsführer großen Wert draufgelegt. So sind Band- und Muskelverletzungen im Profibereich sowie bei der U17 und der U19 spürbar zurückgegangen. Außerdem appellieren wir in den letzten Jahren verstärkt auf die Eigenverantwortung der Spieler. Seien es Ernährungsberatung, Tagesabläufe oder Schlafverhalten. Letztendlich hat auch jeder Spieler einen anderen körperlichen Schwachpunkt, für den er etwas tun muss. Da bekommt dann jeder ein individuelles Programm, dass es vor dem Training zu absolvieren gilt. Das ist heute selbstverständlich, war aber 2003 noch undenkbar.“
Kann man als Arzt eigentlich ein Fußballspiel beobachten, ohne ständig vor Schmerzen zusammenzuzucken?
„Man schaut natürlich mit anderen Augen drauf. Wenn man im Fernsehen in der Wiederholung die Verletzung nochmal genauer betrachtet, hat man meist schon einen Verdacht, was es sein könnte. Auch wenn ich mir auf dem Weg von der Bank zum verletzten Spieler noch keine detaillierte Diagnose zutrauen würde, so hat man meist schon eine Tendenz. Heutzutage werden viele Spiele im Nachwuchsbereich auch aufgezeichnet. So kann ich mir die Szenen im Nachgang nochmal ansehen und davon viel ableiten, um welche Verletzung es sich handeln könnte.“
Nun wartet die Rente auf Sie. Haben Sie dafür größere Pläne?
„Für meine Praxis habe ich meinen absoluten Wunschnachfolger gewinnen können, Dr. Falk Mende, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er ist auch fußballverrückt und wird meine Stelle im Nachwuchsbereich sowie stellvertretend für den Profibereich bei Dynamo fortführen. Darüber bin ich sehr froh und Ihm stehe ich auch weiterhin einen Tag die Woche in der Praxis zur Seite. Außerdem werde ich einen weiteren Tag in der Woche im St. Marien Krankenhaus in Dresden Klotzsche aushelfen, um dem Ärztemangel etwas entgegenzutreten. Da ich nie vorhatte, von Hundert auf null zu gehen, ist das für mich genau das richtige Maß.“
Aber Dynamo hat schon noch etwas Platz in Ihrem Zeitplan?
„Definitiv. Das ist für mich Herzenssache und wird immer Vorrang haben. Sollte ich hier gebraucht werden, stehe ich gern beratend zur Verfügung.“
Dann freuen wir uns hoffentlich auf ein regelmäßiges Wiedersehen! Vielen Dank für Ihren Einsatz sowie das kurzweilige Gespräch!